Rudolf Lehmann »Artist!«
Auf dem Bild der untere, das bin ich
110 S., zahlreiche Abb., 17,90 Euro
ISBN 3-937821-00-7   

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Rudolf Lehmann trat von 1940 bis 1972 als Equilibrist mit wechselnden Partnern unter dem Namen »The Ledas« auf. Die Engagements führten ihn quer durch Europa, Südamerika, Afrika und Asien. Die Kopf-auf-Kopf-Nummer mit dem Ring dazwischen (Cover) konnte bislang niemand auf der Welt wiederholen.
Später arbeitete er im Kino- und Theatergewerbe.
Die letzten Jahre war er gezwungen, seine spärliche Rente hinter der Kasse eines Ladens in einer schlecht beleumundeten Gegend des Ruhrgebiets aufzubessern.
In diesem Buch erzählt er seine Lebensgeschichte.

 

Rudolf Lehmann,
geboren 1920 in Zerbst,
lebt und arbeitet im Ruhrgebiet,
besitzt die Telefonnummer
der Königin von Thailand

Foto: Andrea Mundt

 

 

Textprobe:

Wenn sie auf dem Ring stand und ich unten noch ein bisschen wackelte, hielt das Publikum immer so verängstigt den Atem an, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können. Und mitten in diese Stille hinein fing sie oben plötzlich an zu singen: »O sole mio! Dadadi da dio …«
Ich rief dann hoch: »Stop it! Stop it immediately!«
Sie rief runter: »Why do I have to stop it!«
»You are not Maria Callas!«
»And you are not Onassis to pay me!«



REZENSION:

Zerbster Kind macht Weltkarriere
Neuerscheinung: Reifen-Nummer der »Ledas« bis heute einzigartig – Lebensgeschichte veröffentlicht

Physikalisch ist das eigentlich gar nicht möglich: Zwei Männer sind auf dem Titelbild zu sehen mit sechs Reifen. Der untere Mann, adrett gekleidet mit heller Hose und Krawatte, jongliert zwei Reifen mit den Armen, einen weiteren balanciert er auf dem Kopf. Dieser Reifen jedoch ist nur das Verbindungsstück zu seinem Partner, der darauf einen Kopfstand macht und irgendwie zu schweben scheint. Eine Fotomontage?
»Auf dem Bild der untere, das bin ich«, hat der in Zerbst geborene und aufgewachsene Artist Rudolf Lehmann seine vor kurzem im Dortmunder Neon-Verlag erschienene Autobiographie genannt. Darin lässt er keinen Zweifel daran, dass die abgebildete Show-Nummer echt ist, schließlich hat er damit als »The Ledas« mit wechselnden Partnern von 1940 bis 1972 Weltkarriere gemacht. Bis heute ist dieses atemberaubende Kunststück keinem anderen Artisten gelungen.
Rudolf Lehmann, 1920 als Sohn eines Tischlers und Schul-Hausmeisters in Zerbst geboren, war von früher Kindheit an ein begeisterter Sportler. Ein Onkel, ehemaliger Marinesoldat, brachte ihm die ersten artistischen Kunststücke, unter anderem Seiltanzen, bei. Schon mit sieben Jahren gab der kleine Rudolf mit seinem Bruder Paul Vorstellungen für die Schulkameraden. »Damals kam mir zu Bewusstsein, dass man als Artist Geld verdienen konnte«, schreibt Lehmann, der bald darauf ernsthaft zu trainieren begann. Als 13-Jähriger jagte er seiner Schwester einen gehörigen Schrecken ein, als er auf das Schuldach stieg und am Rand einen Handstand vollführte.
Bald darauf verdiente Rudolf Lehmann tatsächlich mit seinem Talent das erste Geld: Als 14-Jähriger trat er bei Veranstaltungen von Gesangsvereinen und Kegelklubs auf, wofür er immerhin zwischen 30 und 40 Mark bekam. Mit dem Geld erleichterte er seiner Mutter die Haushaltsführung in der kinderreichen Familie, in der nur der Vater ein spärliches Einkommen hatte.
Kurz zuvor hatte die Familie noch Rudolfs Cousins – Zwillinge – aufgenommen, deren Eltern gestorben waren. Mit dem ebenfalls sehr sportlichen Cousin Kurt trat Rudolf einige Jahre später zum ersten Mal als »Die Ledas« auf.
Mit den Nationalsozialisten hatte der Artist nichts im Sinn. Zu sehr hatten sich die Schläge in sein Gedächtnis gebrannt, die ihm ein Nazi-Lehrer verpasst hatte. Auch ärgerte ihn, dass er als Schüler gegen seinen Willen trotz mangelhafter Ausrüstung vor einer Gruppe von Hitlerjungen Kunststücke vollführen musste, wobei er sich verletzte. »Von dem Tag an hasste ich die Nazis, die haben mir die ganze Schule versaut«, schreibt Lehmann, der schon nach der 8. Klasse die Schule verlassen hatte.
In das Varieté-Geschäft durfte der junge Mann jedoch nicht sofort einsteigen. »Erst lernst du einen ordentlichen Beruf«, verlangte der Vater. Sein Sohn gehorchte, lernte Maschinenschlosser und arbeitete anschließend in den Dessauer Junkerswerken, ohne seinen sehnlichsten Wunsch aufzugeben.
Dieser jedoch erfüllte sich wieder nicht, denn 1939 wurde Rudolf Lehmann zur Wehrmacht eingezogen. Dass er dort Aufsehen erregte, weil er mehrere Treppen im Handstand hinauf- und hinunterlief, war für den Deutschen Meister der Amateur-Artistik kaum Ersatz für die Bühnenluft, die er nur zu gern schnuppern wollte.
Ein glücklicher Umstand kam ihm zu Hilfe. Die für die Rüstung tätigen Junkers-Werke forderten ihren Spezialisten, der dort zuvor Präzisions-Werkzeugmaschinen bedient hatte, zurück. Die Wehrmacht musste ihn freigeben. In Dessau trat Lehmann in seiner Freizeit mit seinem Cousin Kurt in einem Varieté-Programm auf. Mitwirkende waren unter anderem die Filmschauspieler Karola Höhn und Paul Kemp. Hier endlich wurde man auf den talentierten Artisten aufmerksam. Nach einer kleinen Hürde – Rudolf Lehmann musste für seinen Arbeitsplatz erst einen Ersatzmann finden, wurde er endlich Profi-Artist.
Dann doch noch zum Kriegsdienst eingezogen, war der Zerbster in einer Staffel eingesetzt, die JU 52 flog, und geriet zum Kriegsende in amerikanische Gefangenschaft. Nach der Entlassung arbeitete er kurze Zeit in Aken, schloss sich dann aber sofort einer durchziehenden Artistentruppe an. »Du willst die Stelle kündigen? Verdienst doch 60 Mark in der Woche!«, sagte sein Arbeitgeber verwundert. Er konnte nicht ahnen, dass Rudolf Lehmann wenig später 60 Mark am Tag verdienen würde, für die damalige Zeit viel Geld.
Mit einem Husarenstreich befreite er seinen Cousin Kurt, den er als Partner für seine sensationellen Kunststücke brauchte, noch schnell aus einem sowjetischen Arbeitslager, und die Vorstellungen der »Ledas« konnten wieder beginnen. Nach hartem Training stand dann auch die »Kopf-auf-Kopf-Nummer« mit dem Ring, mit der die beiden Equilibristen unter anderem im Friedrichstadtpalast Berlin, in Spanien, der Türkei, den USA, Frankreich Großbritannien, Japan und Schweden gastierten. Die Königin von Thailand war von der Vorführung derart begeistert, dass sie dem Artisten ihre private Telefonnummer gab.
Japan war die letzte Station seiner artistischen Karriere. Als seine damalige Show-Partnerin ihre Laufbahn beendete, kehrte auch Rudolf Lehmann nach Deutschland zurück. Mit 52 Jahren, so schreibt er, habe es sich nicht mehr gelohnt, eine neue Partnerin auszubilden. Heute lebt er 84-jährig in Dortmund.
Lehmanns Autobiographie ist in der Diktion eines Tagebuchs abgefasst und erhebt nicht den Anspruch großer Literatur. Der äußerst sachliche Stil, in dem der Verleger Thomas Tonn die Erzählungen des Artisten festgehalten hat, lässt dessen trockenen Humor dennoch ab und zu zwischen den Zeilen hervorlugen.
Claus Blumenstengel, Mitteldeutsche Zeitung, 12.08.2005